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Marjampole

Oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte

Erschienen am 19.09.2005
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446206700
Sprache: Deutsch
Umfang: 320 S.
Format (T/L/B): 2.9 x 22 x 15 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Vergessen Sie Brüssel und Straßburg: der Nabel Europas ist Marjampole. Einmal im Monat treffen Ost und West in Form eines Gebrauchtwagenmarktes in der litauischen Provinzstadt zusammen. Städte wie Marjampole geben Auskunft über das neue Europa: Karl Schlögel hat beobachtet, wie sich seit 1989 ein neuer europäischer Lebensstil herausbildet, der eine unsichtbare Verbindung herstellt von Paris bis Nowgorod. Ein überraschend frisches Bild für alle, die glauben das Europa von heute zu kennen.

Autorenportrait

Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 lehrte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2016 erhielt er für Terror und Traum (Hanser, 2008) den Preis des Historischen Kollegs. Er lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen zuletzt: Der Duft der Imperien. "Chanel No 5" und "Rotes Moskau" (2020) und Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen (NA 2022).

Leseprobe

Berlin und Moskau - zwei Stadtschicksale im 20. Jahrhundert 'Stadtschicksal' - dieser Titel stammt von Karl Scheffler, dem großartigen Porträtisten des soeben zur Metropole gewordenen Berlin. Er konnte 1912 nicht wissen, wie wahr sich der Terminus vom 'Schicksal' für seine Stadt erweisen sollte. Für Moskau gilt es nicht weniger. Beide Städte, die so wuchtig und eindrucksvoll die Bühne des anbrechenden 20. Jahrhunderts betreten hatten, sind im Laufe des Jahrhunderts aus dem Kreis der großen Weltstädte ausgeschieden in einem ganz eigentümlichen und sehr verschiedenen Prozeß der Selbstzerstörung. In vielem kulminiert in diesen Stadtgeschichten die Geschichte der Länder und Völker, deren Hauptstädte sie waren. Wenn man verstehen will, was geschehen ist, muß man an den Ausgangspunkt zurück, in die Zeit vor dem Jahr 1914, in dem das lange 19. Jahrhundert zu Ende ging. Unsere Schilderung der Endzeit des Ancien regime wird nicht ganz frei sein von Anklängen des Nostalgischen und des Gefühls eines tiefen Verlustes. Berlin und Moskau als europäische Metropolen des 20. Jahrhunderts wurden im 19. Jahrhundert geboren. Die Nervosität, die Fieberhaftigkeit und Kraft der beiden Städte, beide latecomer, wenn auch mit verschiedener Ausgangsposition, wurzeln in der Aufbruch- und Boomzeit des Wilhelminismus und des späten russischen Kaiserreiches. Die Anfänge dessen, was erst nach Krieg und Revolution, also in den legendären zwanziger Jahren, größte Klarheit und radikale Stilisierung gefunden hat, liegen bekanntlich in dem so viel geschmähten 'Wilhelminismus' und im 'Silbernen Zeitalter', dem Rußland die Geburt seiner modernen Nationalkultur verdankt. Woran immer wir denken, wenn wir die Blitze und Donnerschläge der Avantgarde und den neuen Ton hören - es begann alles lange vor 1917 und 1918, lange vor russischem Oktober und deutschem November, die nur Katalysator sind für die Radikalisierung und Findung der endgültigen Form. Keine sowjetische Avantgarde ohne das Silberne Zeitalter, keine Weimarer Kultur ohne Herwarth Waldens Sturm, Peter Behrens, Ludwig Hoffmann. Alles nahm Anlauf in den dynamischen Zeiten, da Rußland vom 'Stern Amerikas' träumte, der über Sibirien aufgehen würde (Alexander Block), und da in Deutschland der massendemokratische Traum vom 'Platz an der Sonne' geträumt wurde. Der Aufstieg der Millionen in ein besseres Leben mündete in den großen Krieg von 1914, der Kampf um einen Platz an der Sonne führte auf die Schlachtfelder von Verdun und Galizien; die soziale Mobilisierung überschlug sich in der militärischen Mobilmachung, im ersten Massen- und Volkskrieg der Moderne, der seine Vollendung im totalen Krieg keine dreißig Jahre später finden sollte. Berlin und Moskau 1917/1918: Städte der Soldaten, die aus dem Krieg zurückkamen, aber keinen Weg zurück ins zivile Leben fanden. Es dauert gewiß einige Jahre, jedenfalls in Moskau, bis der Kommunismus der Kriegszeit vorüber ist und die Routinen des zivilen Lebens wieder bestimmend werden. Für Moskau sind es Zeiten der Deindustrialisierung, der Regression in vorurbane Zustände. Moskau verliert seine Kaufmannschaft und sein Unternehmertum. In Moskau läßt sich die Macht, der Apparat des neuen Staates nieder. Moskau wird das 'Vierte Rom' der Kommunistischen Internationale. Die Situation ist irgendwie unvergleichlich: das Moskau des Bürgerkriegs war Bürgerkriegsstadt mit Hungersnot, Entvölkerung, Massensterben, Überlebenskampf; Berlin eher eine Stadt, an der die Revolution trotz der Erwartung eines deutschen Oktober vorübergegangen ist. Die Unterschiede werden erst recht deutlich, als nach 1920 die Friedenszeit wieder anbricht. Moskau erholt sich rasch, aber es ist doch die Hauptstadt eines Bauernlandes - nach einer Revolution, die den Bauern Land gegeben hat. Im Moskau der Neuen Ökonomischen Politik regeneriert sich das mittelständische, kleinunternehmerische, handwerkliche Element sehr rasch. Moskau blüht, wie ein Basar und Schwarzmarkt nur blühen ... Leseprobe